Wie kann der Mensch um seine Gottesbeziehung wissen?
Der Mensch als «Hörer des Wortes»
und «Wesen der Transzendenz».
Die Zentralgedanken von Karl Rahners Anthropologie.
Wie kann der Mensch um seine Gottesbeziehung wissen? Haben wir denn eine Gottesbeziehung? Karl Rahner, einer der wichtigsten Theologen des 20. Jahrhunderts, bestätigt diese These. Mehr als 50% der Deutschen würden allerdings wohl verneinen und zudem hinzufügen: es gibt überhaupt keinen Gott. Zumindest hat dieser Anteil von Teilnehmerinnen und Teilnehmern einer Befragung sich aktiv dafür entschieden, nicht bzw. nicht länger Mitglied einer der beiden großen christlichen Kirchen sein zu wollen oder schließt einen zukünftigen Austritt nicht aus. Womit es erstmalig für beide großen Kirchen zu einem „Kipppunkt“ kommen könnte in Richtung auf einen rasant zunehmenden Bedeutungsverlust innerhalb der Gesellschaft. Der FAZ-Autor spricht in diesem Zusammenhang von einer „Transzendenzschrumpfung“, bei der religiöse Fragen aus dem persönlichen Horizont zu verschwinden drohen, und nennt als einen Grund dafür das wachsende Orientierungsbedürfnis der Menschen an der „Wissenschaft“, mit der wir uns alles erklären können.
Wie kann ich also heutzutage und hierzulande noch glauben und mich in Beziehung fühlen zu etwas, das wir Gott nennen? Wie kann ich mich diesem Gott nähern, wenn ich mich doch in Distanz empfinde – und sei es zu dem Gott der Kirche, der ich selbst angehöre?
Die Antwort, die der katholische Theologe Karl Rahner (1904–1984) gibt, lautet: Transzendenz gehört zum Wesen des Menschen. Wir Menschen sind als nach uns selbst fragende Wesen mit allem, was wir tun und versuchen, weil wir unsere Existenz ergründen und verstehen wollen, auf das Absolute, auf Gott hin ausgerichtet. Dieses Wesensmerkmal charakterisiert uns Menschen allesamt. Atheisten, Agnostiker und Andersglaubende sind nach Rahners These in diese Gottesbeziehung gleichermaßen mithineingenommen, wie kann das sein? Und wäre andererseits nach Rahner eine „Transzendenzschrumpfung“, wie sie aktuell befürchtet wird, überhaupt denkbar? Denn das würde ja das Verschwinden eines nach Rahner ganz entscheidenden menschlichen Wesensmerkmals bedeuten.
In der Hausarbeit möchte ich herausarbeiten, was Karl Rahner meint und wie er es begründet, wenn er sagt, dass jeder einzelne Mensch bis hin zum Agnostiker und Atheisten in seinem Sein auf Gott hin ausgerichtet sei. Im ersten Schritt soll die von Rahner initiierte anthropologische Wende beleuchtet werden, die besagt, dass jede Rede von Gott vom Menschen ausgehen muss. Der menschliche Vollzug des Fragens nach seinem Woher und Wohin soll im zweiten Schritt Antworten auf Rahners Ansatz zum Transzendenzcharakter des Menschen geben. Im weiteren Verlauf möchte ich die Gott-Mensch-Verbindung und das Hören-Können der Botschaft Gottes im Spannungsfeld des Nichtwissens des Menschen erarbeiten. Ich möchte damit meine These belegen, dass das Geheimnis-Bleiben Gottes auch den Menschen als Wesen des Geheimnisses qualifiziert und gerade durch ebendiese Wesensähnlichkeit dem Menschen Gottes Selbstmitteilung zugänglich und die Gottesbeziehung erfahrbar wird.
2. Welche Beziehung hat der Mensch zu Gott?
2.1. Karl Rahners „anthropologische Wende“
Karl Rahner (1904–1984) wird bis heute als einer der wichtigsten Theologen des 20. Jahrhunderts rezipiert, nicht zuletzt, weil er das Hingewendetsein des Menschen zu Gott ins Zentrum seiner Reflexionen stellte und darin bleibende Pionierarbeit leitestete. Rahner, in Freiburg im Breisgau geboren, trat 1922 in den Jesuitenorden ein, wo er unter anderem der wiederentdeckten Lehre des Mystikers Ignatius von Loyola begegnete. Im Rahmen seiner ordensüblichen theologischen Ausbildung und des anschließenden Philosophiestudiums setzte er sich u.a. intensiv mit Immanuel Kant auseinander, las Arbeiten von Joseph Maréchal und nahm Impulse von Martin Heidegger auf. Ab 1948 wirkte er als Dogmatikprofessor in Innsbruck, hatte ab 1967 für drei Jahre die Nachfolge Romano Guardinis am Lehrstuhl für Religionsphilosophie in München inne und war schließlich bis 1971 als Professor für katholische Dogmatik und Dogmengeschichte in Münster tätig. In München und Münster erarbeitete Rahner seine Vorlesung Einführung in den Begriff des Christentums, die neben einigen früheren und später hinzugekommenen Arbeiten Rahners den Grundstock für seinen 1976 veröffentlichten Grundkurs des Glaubens bildete. Das Werk war von Rahner weniger als eine umfassende und geschlossene Systematisierung seines theologischen Denkens angelegt. Vielmehr ging es ihm dabei, wie er selbst sagte, um „die schlichte Frage, was ein Christ ist und wie man Christsein heute in intellektueller Redlichkeit vollziehen kann“. Worin sich bereits Rahners Leitgedanke ablesen lässt, den einzelnen Menschen in seiner konkreten, gegenwärtigen Lebenswelt zum Ausgangs- und Referenzpunkt der Theologie, also des Sprechens von Gott zu machen.
Der Grundkurs des Glaubens entstand unter dem Zeitgeist der „anthropologischen Wende“ des 20. Jahrhunderts, einer Strömung, deren Anfänge in die frühneuzeitliche Philosophiegeschichte zurückführen. Es ging um die Frage: Was gibt uns Gewissheit über die Erkenntnis? Mit Philosophen wie René Descartes (1596–1650) und Immanuel Kant (1724–1804) wurde die Gewissheit über die Erkenntnis eindeutig im menschlichen Subjekt verortet. Mit Descartes berühmter Erkenntnis, den Satz: „Ich bin, ich existiere.“ denken und aussprechen zu können, entdeckt das Subjekt sich selbst. Im radikalen Zweifel und in der Befürchtung der Möglichkeit, über alles, was er sinnlich wahrnimmt und sich denkend erschließt, doch getäuscht werden zu können, kommt Descartes zu der Gewissheit, es müsse ihn – nämlich den die zweifelnden Gedanken denkenden Descartes – wirklich geben, sonst könne er nicht getäuscht werden. Kant, der später noch über Descartes hinausgeht, sagt, dass es die Einheit aus Sinneserfahrungen und Verstandestätigkeit ist, durch die der Mensch zu Erkenntnissen gelangt. Durch Erfahrungen kann der Mensch – aus seiner Perspektive – erkennen und mit Hilfe der Vernunft kann er darüber nachdenken. Die Vernunft, so Kant, ist transzendierend. Wenn der Mensch sich beispielsweise eine Grenze denkt, dann ist er damit gedanklich immer schon einen Schritt über diese Grenze hinaus, was einen darüber hinaus reichenden Horizont impliziert. Einen neuen Einschnitt bedeutete die Philosophie Friedrich Nietzsches im späten 19. Jahrhundert, dessen scharfe Kritik an der gesamten christlich-abendländischen Kultur die Abkehr von allen festen Wahrheiten forderte, da der Mensch selbst doch der Schöpfer seiner Götter und seiner Vorstellungen sei. Damit war die verunsichernde Frage aufgeworfen, wer denn aber der Mensch sei, wenn er nicht Gottes Geschöpf wäre? Nietzsche selbst sah für den Menschen mit dem „Tod Gottes“ eine neue Finsternis und entsetzliche Leere voraus, wenn auch mit der Aussicht, sich danach gänzlich neu zu erfinden. Als Ausdruck von Entwurzelungserfahrung und neuer Sinnsuche können literarische und philosophische Strömungen vom Existenzialismus bis zu Martin Heidegger in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeordnet werden. Zur gleichen Zeit traten mit Max Scheler, Arnold Gehlen und Helmuth Plessner die ersten Entwürfe einer anthropologischen Philosophie auf den Plan mit dem Anspruch, eine Grundwissenschaft vom Wesen des Menschen zu etablieren. Dieser Aufbruch in der Philosophiegeschichte wurde auch theologisch, zuerst in der protestantischen, dann auch in er katholischen Theologie, rezipiert. Es waren nicht zuletzt die Denkansätze Karl Rahners, die eine anthropologische Wendung in der Theologie vorbereiteten und entwickelten. Nach Rahner ist es nicht die äußere Natur oder der Kosmos, von wo aus sich die Frage nach Gott stellt und beantwortet, sondern sie entspringt der Selbstreflexion des Menschen und der seiner gelebten Erfahrungen, es ist also die Frage des einzelnen Menschen nach sich selber. Rahner vollzog damit eine Abkehr von der neuscholastischen Denkschule der festgefügten theologischen Wahrheiten und öffnete die Theologie für den Subjektivitätsgedanken, der die Aufmerksamkeit auf den einzelnen Menschen richtet und nach dessen Erkenntnismöglichkeiten des eigenen Daseins fragt.
Die theologische Anthropologie thematisiert den Menschen im Hinblick auf seine Gottesbeziehung. Sie war über lange Zeit in der Dogmatik kein eigenständiges Traktat, erfuhr also in der Dogmatik keine eigenständige Abhandlung, was aber nicht heißt, dass die Theologiegeschichte bis dahin keine Aussagen über den Menschen kannte. Die systematische Befassung mit dem Menschen ist traditionell ein Teil der Schöpfungstheologie. Dagegen ist in Abkehr von der neuscholastischen Lehrmeinung jedoch eingewendet worden, dass die thematische Einbindung in die Schöpfungstheologie einen ahistorischen, essentialistisch festlegenden Wesensbegriff vom Menschen unterstützt und dadurch verhindert, den Menschen in der Vielfalt seiner Möglichkeiten und konkreten Situiertheiten erfassen zu können. Erst ab der Mitte des 20. Jahrhunderts, in der Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils 1962–1967, nahm die Theologische Anthropologie als jüngstes eigenständiges Traktat Gestalt an. Rahners transzendentalanthropologischer Ansatz, der im folgenden Kapitel beleuchtet werden soll, hatte entscheidenden Anteil daran, dass sich ab den 1970er Jahren die Theologische Anthropologie ebenfalls als eigenständiges Traktat innerhalb der katholischen Dogmatik herauszubilden begann.
Die grundlegende Einsicht der von Karl Rahner eingeforderten anthropologischen Wende in der Theologie ist: Alles Denken geht von den Erfahrungen des Menschen aus. Selbst das, was den Menschen weit übersteigt, also das, was wir mit Gott bezeichnen, muss in seiner Bedeutung für die menschliche Erfahrung zugänglich sein. Selbst wenn Gott als das ganz und gar Andere, als das absolute Geheimnis gilt, kommt es doch darauf an, dass der Mensch sich in seiner Verwiesenheit auf dieses unergründliche Geheimnis erfährt. Rahner schließt damit an die Erkenntnis an, die Kant 1783 in seinen Prolegomena herausgearbeitet hatte, dass der Mensch sich seine eigene Wirklichkeit prägt und ein Wesensmerkmal des Menschen seine Bedingung zur Erkenntnis ist, sein Erkenntnisapparat, der auf den sinnlichen Erfahrungen in den Kategorien Raum und Zeit fußt. Dieser Erkenntnisapparat ist wie eine Brille, mit der wir auf die Dinge schauen und unsere Vorstellungen bilden – ohne dass wir über die Dinge an sich je eine Aussage machen könnten. Die Perspektive unseres menschlichen Erkenntnisapparats, der auf unseren Sinneserfahrungen in Raum und Zeit basiert, kann nicht abgestreift werden, wir können ihr nicht entkommen. Wenn also Theologie, die Rede von Gott, den Menschen in seinem konkreten Leben nicht wirklich antrifft und berührt, wenn sie vor allem nicht berücksichtigt, dass es der Mensch selbst ist, der Theologie erkennend betreibt, dann verfehlt die Theologie mit Rahner ihr eigentliches Ziel. Sein Ansatz ist demzufolge eine anthropologische Reflexion im Dienste der Theologie, die zuallererst die Frage zu klären hat: Welche Voraussetzungen hat der Mensch überhaupt, dass er Gott erkennen und Gott ihn berühren kann.
2.2. Die Transzendenzbezug als Wesensmerkmal des Menschen
Karl Rahner möchte in seiner Theologie auch Anthropologie betreiben und gibt Auskunft darüber, was den Menschen im Kern Mensch sein lässt. Als ein zentrales Merkmal kennzeichnet Rahner, dass der Mensch ein „Wesen der Transzendenz“ ist. Er bestimmt dieses Attribut als das umfassende Ausgerichtetsein des Menschen auf das Unendliche, das nicht Erkennbare und schlechthin Unbegreifbare, das mit „Gott“ bezeichnet wird. Um diese Wesenseigenschaft näher ausführen zu können, bezieht sich Rahner auf die apriorische Erkenntnisstruktur des Menschen. Sie bildet ein „vorgängiges Gesetz“ dafür, was und wie der Mensch erkennen kann, oder umgekehrt, was und wie sich etwas dem Menschen zu erkennen geben kann. Als Beispiel führt Rahner die Ohren an, die ein apriorisches, also ein vorausgesetztes Gesetz darstellen und damit dem Menschen einen Zugang bieten, der dafür sorgt, dass Töne gehört werden können. Auch die Augen oder andere Sinnesorgane stellen solche Zugänge bereit, die den Menschen etwas Bestimmtes wahrnehmen lassen, seien es Gerüche, den Geschmack oder das Aussehen von Dingen oder Töne. Sie alle empfangen Signale aus der Fülle einer sich aussendenden, sich mitteilenden Welt und bieten diesen Wirklichkeiten, je nachdem durch welchen Zugang oder welche „Struktur“ vermittelt, die Möglichkeit, beim Menschen anzukommen und zur Kenntnis genommen zu werden oder abzuperlen. Einen weiteren Vergleich zieht Rahner mit dem zum Schlüssel passenden Schlüsselloch heran. Auch hiermit soll verdeutlicht werden, was Rahner mit dem „apriorischen Gesetz“ der Transzendenzerfahrung zeigen möchte.
„Auch ein Schlüsselloch bildet ein apriorisches Gesetz dafür, welcher Schlüssel hineinpasst, verrät aber gerade dadurch auch etwas von dem Schlüssel selbst.“
Die transzendentale Erfahrung gehört nach Rahner zur Grundstruktur des erkennenden Subjekts, ähnlich einem der beschriebenen Erkenntnisorgane für die raumzeitlichen Erfahrungen des Menschen. Rahners theologischer Anthropologie zufolge ist der Mensch apriorisch, also von vornherein, strukturiert als reine Geöffnetheit des Geistes auf das „Sein“ hin. So befindet sich der Mensch, der um seine eigene Endlichkeit weiß, gleichzeitig in einer ständigen Verwiesenheit auf das Unendliche, die sich in seinem Fragenstellen und im Verstehenwollen offenbart. „Er kann alles in Frage stellen“ so Rahner, und beweist sich eben dadurch „als das Wesen eines unendlichen Horizonts“. So gehen die Fragen des Menschen, die nicht zuletzt die eigene Endlichkeit betreffen, bereits über diese Endlichkeit hinaus, eben weil die Unendlichkeit gedacht und sich über sie gefragt, vor ihr gescheut oder über sie gewundert wird.
„Indem er seine Endlichkeit radikal erfährt, greift er über diese Endlichkeit hinaus, erfährt er sich als Wesen der Transzendenz, als Geist“, so Rahner.
Der unendliche Horizont menschlichen Fragens kann aber nie erreicht werden. Denn je mehr der Mensch fragt und ergründen möchte, umso mehr Fragen kommen hinzu und lassen den Horizont weiter abrücken. Dieses Ausgesetztsein in die Unbegrenztheit kann angsteinflößend sein. Der Mensch versucht vielleicht, den Blick von der „unheimlichen Unendlichkeit“ abzuwenden, so Rahner, indem er sich entschlossen den alltäglichen Dingen, dem „kategorialen Dasein“ zuwendet und entscheidet, „sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen“. Aber er bleibt doch der Unendlichkeit ausgesetzt in seiner ständigen Verwiesenheit auf sie. Denn jedes neue Erkennen und Verstehen, jeder weitere Denkschritt, jedes Infragestellen eines Resultats und jede neue Antwort geben bereits wieder Anlass für eine neue Frage. Und so ist der Mensch sich selbst mit Rahner „die Frage, die […] wirklich und unausweichlich vor ihm aufsteht und die von ihm nie überholt, nie adäquat beantwortet werden kann.“
Es ist das Erkennenwollen und Erkennenkönnen des Menschen, welches Rahner als das Transzendenzattribut benennt, das schon immer das „Sein“ und die „Unendlichkeit der Wirklichkeit“ antizipieren lässt. Rahner nennt es den „Vorgriff auf das ‚Sein‘“, der nur dann möglich ist, wenn ein „Sein“ existiert, und der Mensch sich nicht dem vollkommen leeren, bedeutungslosen Nichts ausgesetzt findet. Das Nichts ist vollkommene Leere. Es zieht nichts an und bringt nichts in Bewegung, was der Mensch als sein tatsächliches und nicht nichtiges Leben empfindet. Zum Nichts gibt es keine Beziehung. Der Mensch mag im Lebensverlauf zwar Erfahrungen machen, denen er jede Sinnhaftigkeit und Zielführung abspricht und die ihn vollkommene Leere erfahren lassen. Aber daneben gibt es das Hoffnungsvolle, die Lichtblicke und den neuen Schwung, die das Leben neben allen Belastungen mitgestalten und die es unmöglich machen, dass das Leben im leeren Nichts gründet und endet. Daher kann es nicht das Nichts sein, sondern das „Sein“, dass den Menschen in seiner Transzendenz einlädt, ihn trägt und auf das hin der Mensch geöffnet ist.
Die Transzendenzerfahrung ist kein einzelnes Erlebnis oder ein Erlebnis, das sich thematisch einordnen ließe und neben anderen Erlebnissen erfahrbar wäre. Die Erfahrung der menschlichen Transzendenz ist gewissenmaßen die Atmosphäre, die Luft, in der der Mensch lebt und sich erfährt. Diese Transzendenz ist, so Rahner, eine „Grundbefindlichkeit“, die allem vorausliegt und in der der Mensch mit seinem Geist nach dem Absoluten strebt. Rahner benennt sie als die „apriorische Eröffnetheit“ des Menschen auf das „Sein“ selbst hin, die er erfährt, wenn er hoffend und zweifelnd, sorgend und handelnd, offen und beklommen seinem Alltagsleben ausgesetzt ist. Die eigentliche (göttliche) Transzendenz wirkt im Hintergrund des Lebensvollzug. Sie ist nicht völlig zu erfassen und kann höchstens, wie Rahner vermerkt, in der Mystik als Erfahrung erahnt werden. Sie bleibt die „geheime Ingredienz“ des Lebens. Und doch hält der Theologe fest: „Aber der Mensch ist und bleibt das Wesen der Transzendenz, d.h. jenes Seiende, dem sich die unverfügbare und schweigende Unendlichkeit der Wirklichkeit als Geheimnis dauernd zuschickt.“
Diese Transzendenzerfahrung kann ignoriert, sogar zurückgewiesen werden. Doch, so schränkt Rahner ein, selbst Skepsis, Angst und Ablehnung lassen die unbeantwortbare letzte Frage nicht ruhen, die auch als Frage des Menschen nach sich selbst bestehen bleibt.
Dem theologischen Verständnis Karl Rahners vom transzendental-metaphysischen Ausgriff des menschlichen Geistes auf das absolute Sein und seine damit verbundene Offenheit für das unendliche Geheimnis Gottes liegen philosophische Einsichten zugrunde. Immanuel Kant hatte sich in der Frage, wovon alle Erkenntnis notwendig ihren Ausgang nimmt, auf die sinnliche Erfahrung in Raum und Zeit als apriorische Bedingung festgelegt. Damit hatte er zugleich die metaphysische Erkenntnis dessen, was jenseits der raum-zeitlichen Erfahrung des Menschen liegt, prinzipiell ausgeschlossen. Bei dem belgischen Jesuiten und Philosophen Joseph Maréchal (1878 – 1944) fand Rahner den Hinweis auf die apriorische Offenheit des Denkens für das Sein und damit auch für das absolute Sein Gottes, das über die menschliche Sinneserfahrung hinausgeht. Rahner sah darin ebenso wie Maréchal einen Brückenschlag zwischen der Kantschen Erkenntnistheorie und der Metaphysik des Thomas von Aquin (1225-1274). Er war davon überzeugt, dass in der transzendentalen Reflexion eine apriorische Offenheit des menschlichen Geistes für die metaphysische Dimension der menschlichen Existenz auf das absolute Sein Gottes hin aufweisbar ist. Der Mensch wird gleichzeitig a priori durch seine sinnlichen Erfahrungen in Raum und Zeit seiner eigenen Geschichte bestimmt, aber auch durch geschichtlich kontingentes, aus Freiheit gesetztes Geschehen Gottes, dem der Mensch sein Leben verdankt. Emerich Coreth, Jesuit und Professor für Christliche Philosophie in Innsbruck, hebt hervor, dass auch für Rahner der Mensch Geist in Geschichte ist und bleibt. Das Heilsgeschehen in Christus als Akt aus Gottes freiem Willen begegnet in geschichtlicher Erfahrung und Überlieferung. Dieses theologisch verstanden apriorische Geschehen, das das gläubige christliche Selbst- und Weltverständnis ausmacht, bleibt Dogma.
Es ist als ein empirisch-geschichtliches Apriori zu verstehen, nicht aber als ein solches, dass durch die menschliche, transzendentale Erkenntnisfähigkeit hergeleitet werden könnte.
3. Welche Beziehung hat Gott zu den Menschen?
3.1. Gottes Selbstmitteilung
Rahner kennzeichnet die menschliche Transzendenz als „selbstverständlichste, notwendigste Bedingung der Möglichkeit allen geistigen Verstehens und Begreifens“, mit der sich Gott dem Menschen als schweigende Unendlichkeit der Wirklichkeit, als Geheimnis und als Sein, zuschickt. Mit dem menschlichen Fragen als Transzendenz-Faktum möchte Rahner das Verhältnis von Erkennen und Sein näher bestimmen, so der Theologe Nikolaus Schwerdtfeger. Durch das Fragen ist der Mensch in Beziehung mit dem Sein, es ist mit Rahners Worten, das „Woraufhin“ des Menschen. Dadurch erfolgt aber auch die Erkennbarkeit des Seins, denn Sein ist Fragbarkeit. Auch Gott ist ausgerichtet, mit seiner Selbstmitteilung auf den Menschen. Und so schickt sich das Sein und damit Gott dem Menschen über die Struktur des Fragens und den Wissensdurst zu, als ständige Selbstmitteilung, als „Wovonher“. Die Selbstmitteilung Gottes zum Menschen kann nicht als Art der Offenbarung verstanden werden, mit der sich Gott über dinglich gedachte Botschaften dem Menschen zu erkennen gibt. Sondern wo immer der Mensch sich in seiner Transzendenz als der Fragende erfährt, sich dieser womöglich durch den unendlichen Horizont und das nicht Kennen aller Antworten beunruhigt fühlt, dort fließen Woraufhin und Wovonher.
Selbstmitteilung Gottes bedeutet für Rahner, dass das Mitgeteilte wirklich Gott in seinem Sein ist. Der Mensch erfährt sich in der Mitteilung Gottes als Seiender, in der Mitteilung, „die der Höhepunkt der Subjektivität auf seitens des Mitteilenden und des Empfangenden ist.“
Es ist die Einheit-in-Unterschiedenheit, die nach Rahner die transzendentale Erfahrung ausmacht von wissendem Subjekt und begegnendem Objekt. Der Seiende erfährt sich als Teil des Seins. „Der Mensch ist ‚bei sich‘ – indem er ‚beim andern‘ ist.“ Auch wenn der Anstoß der Erkenntnis vom „andern“ kommt und auf den Erkenntnisapparat des Menschen trifft, ist die Erkenntnis vom Menschen nur vollziehbar, wenn dieser um sich selbst und seine Erkenntnis weiß. Als entscheidend für das Verständnis der Selbstmitteilung Gottes stößt Rahner zu begreifen an, dass der Geber die Gabe selbst ist. Der Geber ist durch sich und das Gegebene selbst das, was den Menschen zum Menschen macht. Das Sein ist durch die Möglichkeit des Überschreitens und der Erkenntnis Teil des Seienden und macht ihn gleichzeitig zum Seienden. Der Mensch erkennt den einzelnen Gegenstand, indem er ihn überschreitet und auf einen unbegrenzten Horizont vorgreift. Das ist, was nach Rahner zur Struktur des Menschen gehört und damit das Selbstverständliche ist, das Seiende selbst, inmitten des uneinholbaren Seins, das sich fortlaufend zuschickt und mitteilt. Es gibt das Verhältnis zwischen dem unendlichen Gott und dem endlichen Seienden, dem Schlüsselloch, in das ein formgenauer Schlüssel passt, und die „‘Ursache‘ inneres konstitutives Prinzip des Verursachten selber wird.“
„Gott ist in dem, was wir Gnade und unmittelbare Anschauung Gottes nennen, wirklich ein inneres konstitutives Prinzip des Menschen als des im Heil und in der Vollendung befindlichen.“
Der Geber bringt durch das Gegebene nichts ihm selbst Verschiedenes im Menschen hervor, sondern macht die eigene göttliche Wirklichkeit mitteilend zum Konstitutivum des Wesens des Geschaffenen. Es bleibt in dieser transzendentalen Bewegung das absolute Vorrecht Gottes, sich dem Menschen zuzuschicken und mitzuteilen und dabei nicht weniger allumfassend, uneinholbar und geheimnisvoll zu werden.
3.2. Hörer des Wortes
Das Christentum konstituiert sich durch den Glauben, dass der Mensch sein Heil im Glauben nicht nur an Gott, sondern auch an die Gottessohnschaft Jesu Christi erlangt, wie sie die biblische Überlieferung bezeugt. Rahner stellt die Frage, wie es bezüglich der Heilserlangung um die restliche Menschheit bestellt ist. Menschen, die entweder vor der Geburt Christi gelebt hatten oder danach geboren wurden, aber mit der christlichen Botschaft nicht in Kontakt kamen und kommen, weil sie in anderen Erdteilen leben oder ihnen auf sonstige Weise die Möglichkeit verwehrt ist, mit der Heilsbotschaft in Berührung zu kommen, wie steht es mit ihnen? Sind sie von der Selbstmitteilung Gottes und damit von der Erfüllung ihres Lebens, vom Heil ausgeschlossen und zur Sinnlosigkeit ihres Daseins verurteilt? Dagegen argumentiert Rahner mit der biblischen Offenbarung, die ausdrücklich den allgemeinen Heilswillen Gottes, der sich an alle Menschen richtet, proklamiert: „Gott will, dass alle Menschen selig werden (1. Tim 2,4)“. Auf irgendeine Weise müssen alle Menschen „Glieder der Kirche“ sein, wenn sie doch allesamt Anteil am Heilsversprechen haben und dieses Heil das von Christus verkündete ist, da es nach christlichem Verständnis kein anderes gibt. Ganz real und geschichtlich konkret müssen, so Rahner, alle Menschen Teile der Christenheit sein können, selbst dann, wenn sie sich nicht offiziell dazu bekannt haben oder als solche bezeichnen, sofern dieser Mensch sich innerlich auf den Weg des Heils gemacht hat und dies auch handelnd lebt. Diesen Sachverhalt bezeichnet Rahner als anonyme Christlichkeit. Aber, so führt Rahner aus, diese anonyme Bezogenheit auf das Christentum, die es ja geben muss, da allen Menschen das Heil Gottes offensteht, kann nicht allein und automatisch schon mit dem Menschsein gegeben sein. Der Versuch, das Heil Gottes, die Nähe zu Gott und Gnade der Erlösung als dem Menschsein von vornherein gesichert und ihm zugehörig zu benennen, höbe diese Gnade Gottes als solche auf. Es ist aber die freie Selbstmitteilung Gottes, die sich als Gnade dem Menschen zu erkennen gibt, während der Mensch durch den Besitz seiner ihm wesenseigenen Möglichkeiten in der Lage ist, zu „vernehmen“ und annehmend zu erkennen, wie sich das göttliche Geheimnis in seiner Güte ihm zuschickt. Denn Rahners anthropologisch-theologische Analyse bestimmt den Menschen als Wesen des Vorgriffs, das eingebettet ist, in eine ihn übergreifende Unendlichkeit.Das menschliche Wesen muss dementsprechend über den Möglichkeitsraum einer unbegrenzte Offenheit für das unendliche Sein Gottes verfügen, die wir mit Geist bezeichnen.
„Geist meint jenes ungegenständliche Voraus und Darüberhinaus über alles einzelne Erkennbare und Faßliche, jene Offenheit, die immer schon eröffnet ist durch den schöpferischen Anruf des unendlichen Geheimnisses, dass das prinzipiell Letzte und Erste, das Allumfassende und der abgründige Grund aller Begreifbarkeit, aller Wirklichkeit und Möglichkeit ist.“
Die zentrale Gottesbezeichnung ist bei Rahner das „unendliche Geheimnis“. Zum Wissen über dieses Geheimnis gehört auch ein Wissen um die weltübersteigende und -überragende Personalität dieses Gottes. Es gehört dazu aber auch das Wissen um die Tiefe des Abgrunds der freien göttlichen Willenswahl, welcher der Mensch sein Leben verdankt und von welcher der Mensch weiß, so Rahner, dass mit seinem Eintritt ins Leben dieser freie Wille Gottes sich noch nicht in allem eröffnet und festgelegt hat.
„Erweckt durch ihr [der Freiheit, J.S.] Schöpferwort, steht er [der Mensch, J.S.] nun in Erwartung tieferer Kundgabe: Verweist die göttliche Freiheit ihn in die Distanz ihres Schweigens oder hat sie ihm dazu Ohren gegeben, daß er nun erst ihr eigentliches Wort vernehmen könne?“
Der Mensch besitzt also nicht nur die Fähigkeit, ein „neues Wort seines verborgenen Gottes“ zu hören, sondern er wartet sogar mit einer gewissen Unruhe darauf, wie wir Rahners Worten entnehmen, ohne dabei jedoch ein Anrecht auf diese göttliche Ansprache zu haben. Das Hören des Wortes ist vielmehr eine Gabe der Gnade. In welcher Beziehung schließt nun aber diese möglicherweise „ganz unausdrückliche, unthematische, aber das Dasein des Menschen immer durchwaltende Tendenz auf Gott“ eine Hinwendung zu Jesus Christus ein, so fragt Rahner? Die Antwort bewegt sich für den Theologen auf zwei Ebenen. So ist es für ihn einerseits unzweifelhaft, dass der christliche Glaube auf der Überzeugung fußt, dass die göttliche Selbstmittelung durch die Inkarnation in Jesus Christus als das Fleisch gewordene Wort erfolgt, wie es die biblische Überlieferung bezeugt, und die sichtbare Kirche der entscheidende und gültige Ort der Gottesbegegnung ist. Doch deutet sich auch bereits zu einem frühen Zeitpunkt seiner theologischen Lehrtätigkeit an, dass für Rahner noch ein zweiter Zugang zu dem sich offenbarenden Gott außerhalb der Kirche denkbar ist, nämlich durch ein göttliches Gnadenwirken, das sich außerhalb der Kirche als eine innere, transzendentale Offenbarung ereignet.
Mit der Heilsbotschaft Christi, also der Offenbarungsbotschaft als gesprochenes oder geschriebenes Wort, kann eine tiefe Erkenntnis über die eigene Bestimmung als Teil des göttlichen Heilsplans geschehen. Wenn wir es ernstnehmen, dass Gott sich im Menschen selbstoffenbart hat, so dürfen wir mit Rahner daraus schließen, „ist der Mensch das, was wird, wenn Gott sich aussagt und entäußert.“ Im Umkehrschluss bedeutet das, „er ist jener, der zu sich kommt, wenn er sich an das unbegreifliche Geheimnis Gottes weggibt.“ Der Mensch, der ja ein geschichtliches Wesen ist, da er durch seine Erfahrungen in Zeit und Raum die Welt erkennend begreift, wird erst in seiner Geschichte zu dem, was er ist, und gelangt zur Erkenntnis darüber, wer er ist. Denn glaubend vermag der Mensch zu erkennen, dass die Selbstmitteilung Gottes nicht einfach eine Zugabe ist, sondern „daß diese allen angebotene und in Christus in höchster Weise erfüllte Selbstmitteilung Gottes vielmehr das Ziel der Schöpfung überhaupt bedeutet“. Die dem Menschen angebotene Gnadengabe der Selbstmitteilung Gottes – und dem christlichen Glauben nach in Christus im höchsten Maße erfüllte Selbstmitteilung Gottes – ist dem Menschen schon im Vorfeld seiner freien Stellungnahme beschert, sie ist eine existenziell grundlegende Bestimmung, eine gnadenhafte Mitgift des Menschen, die von Rahner als sein „übernatürliches Existential“ bezeichnet wird. Dieses übernatürliche Existenzial ist eine jedem Menschen immer und überall angebotene Glaubensgnade, die grundsätzlich schon gestiftet ist. Nur weil zum Dasein des Menschen bereits diese Gnade als Teil des göttlichen Heilsplans gehört, ist er ein möglicher Hörer der christlichen Glaubensbotschaft.
Die Selbstmitteilung Gottes ist ein Angebot, dessen Zurückweisung den Menschen in Bezug auf sein eigenes Wesen mit sich selbst in Widerspruch brächte. Die Selbstmitteilung Gottes erfolgt aber nicht nur an den Menschen als Wesen der Transzendenz, sondern auch als Freiheitswesen, das mit der Möglichkeit eines Ja oder Nein zu Gott existiert. In der Erfahrung seiner Transzendenz und seiner grenzenlosen, fragenden Offenheit auf das Geheimnis hin erkennt der Mensch nicht notwendig schon das Angebot der Gnade und doch erfährt er sie dem Inhalt nach. Die Offenbarung in Christus versteht Rahner als geschichtliche Konkretisierung, denn sie ist „nur die Ausdrücklichkeit dessen, was wir immer schon aus Gnade sind und wenigstens unthematisch in der Unendlichkeit unserer Transzendenz erfahren.“
Indem der Mensch in diese Offenbarung einwilligt, setzt er den Akt des Glaubens. Aber, so betont Rahner, die Offenbarung nimmt der Mensch bereits an, wenn er sich selbst annimmt. Denn in diesem Moment spricht die Offenbarung bereits in ihm.
„Vor der Ausdrücklichkeit des amtlichen kirchlichen Glaubens kann diese Annahme schon in jener Unausdrücklichkeit erfolgen, da einer in der schweigenden Redlichkeit der Geduld die Pflicht seines Alltags übernimmt und lebt, im Dienst an seiner sachlichen Aufgabe und an den Forderungen, die die ihm anvertrauten Menschen an ihn stellen.“
Glaubt ein Mensch in Tat und Wahrheit – und sei es in einer anderen Glaubenstradition – an das Geheimnis Gottes, dann ist die Gnade dieser Wahrheit, die ihn leitet und begleitet, immer schon die Gnade Gottes in Christus. Und wer in dieses Gnadengeschenk einwilligt, wird nach Rahner ein anonymer Christ zu nennen sein.
3.3. Bleibendes Geheimnis Gottes
„Der Mensch“, so Rahner, „ist die radikale Frage nach Gott“. Sie ist als solche eine von Gott geschaffene und sie ist mit seiner Antwort versehen, die er geschichtlich greifbar mit dem Erscheinen des Menschen- und Gottessohns Christus gibt. Aber sie wird darüber hinaus in jedem einzelnen Menschen von Gott selbst beantwortet. Diesen Punkt bei Rahner arbeitet der katholische Theologe Bernd Jochen Hilberath noch einmal heraus. So sehr Gottes Selbstmitteilung in Jesus Christus ihren unumkehrbaren Höhepunkt in der Geschichte erreicht hat, so sehr gilt für Rahner auch der umfassende Heilswille Gottes über die Kirche hinaus der gesamten Menschheitsgeschichte. Das Wirken Gottes reicht in das alltägliche Leben eines jeden Menschen hinein. Was das konkret bedeutet, zeigt Rahner in einem seiner frühen Werke auf, dem schmalen Bändchen Von der Not und dem Segen des Gebets (Erstausgabe 1948). Hier arbeitet er heraus, wie der Mensch dem abgründigen Schweigen Gottes begegnen und sein Herz dennoch öffnen kann. Das nämlich geschieht, so Rahner, im Gebet, das er schrittweise beschreibt und in dem das Herz zu Gott sprechen und im Herzen Gott zum Menschen sprechen könne. Und doch weist Rahner darauf hin, dass „Glauben heißt, die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang aushalten.“ Darin sind auch die Reflexionen der Theologie selbst letztlich immer wieder an das Geheimnis Gott verwiesen.
Dass wir Menschen, anders als Christus, nicht die Selbstentäußerung Gottes sind, steht dem nicht entgegen. Rahner möchte differenzieren: „Wenn Gott Nicht-Gott sein will, entsteht der Mensch.“ Damit soll nicht eine banale Alltäglichkeit des Menschen ausgedrückt werden. Es soll vielmehr zum Ausdruck gebracht werden, dass der Mensch in das unbegreifliche Geheimnis Gottes mit hineingenommen ist und daran Anteil hat. Nicht umsonst nennt Rahner den Menschen auch das Wesen des Geheimnisses, denn es hat Anteil am Geheimnis seines Existenzgrundes. Der Mensch partizipiert am unendlichen Geheimnis Gottes, „so wie die Frage an ihrer Antwort partizipiert“. Denn die Frage besteht nur darum, weil sie durch die Antwort als Möglichkeit getragen wird. Rahner führt die Fragen des Menschen nach sich selbst und dem göttlichen Geheimnis immer wieder auf das geschichtliche Ereignis der Christusoffenbarung zurück, in dem sich Fragen und Antworten wie Schlüsselloch und Schlüssel zusammenfügen: „Das wissen wir dadurch, dass wir den menschengewordenen Logos in unserer Geschichte erkennen und sagen: Hier ist die Frage, die wir sind, (…) beantwortet mit Gott selber.“ Aber Rahner geht noch einen Schritt weiter, indem er als Kern seiner Theologie auf die gnadenhafte göttliche Selbstmitteilung an jeden einzelnen Menschen verweist:
„Meine theologische Grundüberzeugung, wenn Sie so wollen, ist demgegenüber, daß das, was wir Gnade nennen, zwar selbstverständlich eine Wirklichkeit ist, die in einem dialogisch freien Spannungsverhältnis von Gott her gegeben, also unverschuldet übernatürlich ist. Aber für mich ist Gnade zugleich eine Wirklichkeit, die so sehr in der innersten Mitte der Existenz in Erkenntnis und Freiheit immer [Hervorhebung i. O.] und überall im Modus des Angebotes, im Modus der Annahme oder der Ablehnung, so gegeben ist, daß der Mensch aus dieser transzendentalen Eigentümlichkeit des Wesens überhaupt nicht heraustreten kann“.
Wenn also der Mensch die radikale Frage nach Gott ist und der nach Gott fragende Mensch bereits an der diese Frage ermöglichenden Antwort teilhat, resümiert Rahner, wenn dem christlichen Dogma nach Gott selbst Mensch geworden ist, wenn Theologie darum auch immer Anthropologie ist, also Theologie in Bezug zum Menschen und vom Menschen her, wenn es dem Menschen darum im Grunde unmöglich ist, schlecht von sich selbst zu denken, weil er dann auch schlecht von Gott dächte, und wenn Gott schließlich das unaufhebbare Geheimnis bleibt, das nie in seiner Gänze erschlossen werden kann, dann ist daraus zu folgern, dass der Mensch das ausgesagte Geheimnis Gottes ist, eben ein Geheimnis selbst.
Anschlussfähig an diese Sichtweise ist auch die Perspektive des katholischen Theologen Alois Halbmayr. Er hebt hervor, dass Aussagen über den Menschen immer auch Aussagen über Gott sind. Ein Menschenbild zu skizzieren, ob in philosophischen oder in theologischen Anthropologien, ist darum aber nur als negative Anthropologie möglich. Halbmayr stützt sich dabei auf eine der prägnantesten Aussagen über den Menschen und seine Gottesebenbildlichkeit, die in der Schöpfungsgeschichte, Genesis 1,26 zu finden ist. „Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn, […].“
Sich ein Bild von Gott zu machen, verbietet die Bibel, da Gott sich als das Geheimnisvolle und das ganz Andere niemals in einer einzigen Darstellung einfangen und beschreiben lässt. Halbmayr schlussfolgert, dass, wenn die Gottesbeziehung sich nicht von der Welt- und Selbsterfahrung des Menschen isolieren lässt, sondern diese sich in den Beziehungen zu Mitmenschen und Mitgeschöpfen und der Welt als Ganzes – und nach Rahner dem Ergründenwollen – immer auf die eigene Existenz bezogen ausdrückt, dann muss das Bilderverbot als logische Konsequenz auch für den Menschen gelten. Sich kein Bildnis von Gott zu machen, Gott nicht zu konzeptualisieren und mit festgelegten Eigenschaften und Vorstellungen zu versehen, muss sich auf Grund der Ebenbildlichkeit Gottes ebenfalls für den Menschen verbieten. Und doch braucht die Welt Bilder und Beschreibungen, gibt Halbmayr zu bedenken. Denn Menschen kommunizieren mit Bildern, finden mit ihrer Hilfe Zugänge und verarbeiten Erlebtes. Es sind aber die festgezurrten, die eindeutigen und unverrückbaren Bilder, die sich von Gott und dem Menschen nicht gemacht werden dürfen. Er plädiert für eine theologische Anthropologie, die den Traditionen der negativen Theologie und des Bildverbots verpflichtet ist und damit im Rückgriff auf die eigene Tradition zeitgemäß wird und alte Verfestigungen aufbricht, die der heutigen Differenzierungsnotwendigkeit und dem heutigen Erkenntnisstand nicht mehr entsprechen und nicht zuletzt auch, weil sie den Begriff der göttlichen und der menschliche Freiheit berühren.
4. Fazit
Karl Rahner spricht dem Menschen – jedem Menschen – als Wesensmerkmal die Erkenntnismöglichkeit zu, welche die Voraussetzung einer Gottesbeziehung ist. Der Mensch ist nach Rahner das Wesen der Transzendenz, weil er darauf ausgerichtet ist, mit seinen Fragen den ihm gegebenen Erkenntnishorizont zu transzendieren und nach Antworten zu suchen, die sein Vorstellungsvermögen überschreiten. Desweiteren postuliert Rahner, dass der Mensch sowohl durch die fragende Verwiesenheit auf das seine sinnliche Welt Überschreitende, sein Denkvermögen Übersteigende, jenes unbegreifbare Geheimnis als auch durch das Faktum, dass das der Mensch diese Verwiesenheit überhaupt zu denken in der Lage ist, dass allein darum bereits jeder Mensch das Angebot einer Beziehung zu jenem Geheimnis hat, das wir Gott nennen
Die christliche Rede von Gott ist die Rede von dem Gott, der sich selbst den Menschen mitteilt, was Theologie im Verständnis Rahners automatisch auch als Anthropologie qualifiziert, da ein Erkennen gleichzeitig über den Erkennenden und das Erkannte eine Aussage macht. So ist es nicht verwunderlich, dass Rahner bei der innerfachlichen Entwicklung zu einer theologischen Anthropologie als eigenständiges Traktat initiativ wirkte.
Auch was den Glauben anbetrifft gilt mit Rahner, dass der Glaube nicht anders überliefert werden, als dass immer zugleich über Gott und den Menschen in seiner jeweiligen, aktuellen Gegenwart gesprochen wird und darüber, wie Gott den Menschen in seinem gelebten Alltag erreicht. Gott kann nicht nur jenseitig verortet werden, sich in der äußeren Natur vergegenständlichend oder im Kosmos wandelnd. Sondern es sind die gelebten Erfahrungen des Menschen, die Gott lokalisieren. Gott und Mensch sind wie Schlüssel und Schlüsselloch zu verstehen. Sie teilen sich nach Rahner eine gemeinsame Bestimmung, die durch das Bewusstsein im Menschenleben erfahrbar ist. Die Selbstmitteilung Gottes beschränkt sich nicht auf die biblische Offenbarung, die das Christentum bezeugt. Sie vollzieht sich vielmehr auch konkret im fragenden, suchenden und sich öffnenden Überschreiten des intellektuellen Horizontes, in dem sich der Mensch tagtäglich wiederfindet.
Rahner prägt außerdem den Theologiediskurs mit seiner mutigen These vom anonymen Christentum, die besagt, dass Menschen, ganz gleich welcher Glaubensrichtung zugehörig oder sich zu keiner bekennend, anonyme Christen sein können, insofern jeder Mensch ausnahmslos in das Heilsversprechen Gottes mit hineingenommen ist. So sind nach Rahner anonyme Christen diejenigen, die in ihrer für alle Menschen geltenden Transzendenzverwiesenheit nach den Werten der Barmherzigkeit, der Freundlichkeit und des Wohlwollens, der Nachsicht und Vergebungsfähigkeit, der Offenheit und des Verständnisses, der Gewissenhaftigkeit und der Verantwortung leben. Diese Menschen, die in das Gnadengeschenk einwilligen und im Bewusstsein des großen, namenlosen Geheimnisses leben, dem sie ihr Leben verdanken, sind mit Rahner als anonyme Christen zu bezeichnen, denn auch sie leben die Ethik des Christentums.
Zuguterletzt kann die antizipierte „Transzendenzschrumpfung“ des eingangs zitierten FAZ-Autors als zurückgewiesen betrachtet werden, da sich mit Rahner das Transzendente als Geist in schlicht allem befindet. Allerdings ist auch das Nein zum Transzendenten selbstverständlich möglich. Gott will und erschuf den freien Menschen, der sich mit seinem Ja oder Nein zum Gnadenangebot verhalten kann. Doch, so merkt Rahner an, ist ein Nein zu Gott ein Nein zu sich selbst, ja es kommt der Selbstablehnung als geschaffenes Wesen gleich. Mensch und Gott sind wie Frage und Antwort, sind wie Fisch und Wasser, und sie haben, in ungleichem Abhängigkeitsverhältnis, zwingend miteinander zu tun. Der Mensch hat Anteil am göttlichen Geheimnis und wird deshalb von Rahner nicht nur als Wesen der Transzendenz, sondern auch als Wesen des Geheimnisses benannt. Dieses Bewusstsein einer geteilten Bestimmung und möglicherweise eines geteilten Sinns, konkret erlebbar im Alltäglichen durch die stetige Verwiesenheit auf das Größere im Fragenstellen und Sichwundern, kann meines Erachtens auch in der heutigen Zeit, auch für Menschen, die sich von der offiziellen Kirche abwenden, eine fruchtbare und hoffnungsvolle Gewissheit geben: Gott und ich, wir sind uns in ständiger Bezogenheit aufeinander nicht fern. Darüber hinaus kann ein Bewusstsein des eigenen Eingebettetseins möglicherweise auch (wieder) Zugang für die geschichtliche Offenbarung geben, um mit „neuen“ Ohren die christliche Botschaft der Heiligen Schrift zu hören und in ihr Halt und Anbindung an eine jahrtausendealte Menschheits- und Glaubenstradition zu erfahren.
Karla Johanna Schaeffer: Wie kann der Mensch um seine Gottesbeziehung wissen. Der Mensch als «Hörer des Wortes»und «Wesen der Transzendenz». Die Zentralgedanken von Karl Rahners Anthropologie, Hausarbeit, Universität Luzern, FS 2024.
Ausgewählte Literaturangaben:
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Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1984 – Nachdruck 2002.
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Rahner, Karl: Sämtliche Werke, Bd. 26, Grundkurs des Glaubens. Studien zum Begriff des Christentums, bearb. v. Nikolaus Schwerdtfeger/ Albert Raffelt, Zürich/ Düsseldorf/ Freiburg i. Br. 1999.
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Faix, Tobias: Schutzfaktoren des Glaubens entwickeln – Mit Mündigkeit und Resilienz Machtmissbrauch vorbeugen, in: Martina Kessler (Hg.): Religiösen Machtmissbrauch verhindern, Gießen 2021, S. 25–46.
Halbmayr, Alois: Welcher Mensch? Einige Herausforderungen gegenwärtiger Theologischer Anthropologie, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 52/2005, S. 514–549.
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Schwertfeger, Nikolaus: Gnade und Welt. Zum Grundgefüge von Karl Rahners Theorie der „anonymen Christen“, Freiburg i. Br. 1982.
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